Kurze Erläuterung
Schon vor der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933 erfolgten aus nationalsozialistischen und anderen antisemitischen Kreisen immer wieder Boykottaufrufe und Angriffe auf jüdische Geschäfte und Unternehmen. Ab 1933 intensivierten sich diese Aktionen immer weiter, was international zu Empörungen führte. In den USA und Großbritannien etwa beschlossen nicht nur jüdische Organisationen, als Reaktion auf den staatlich geförderten Antisemitismus ihrerseits deutsche Waren zu boykottieren. Der fränkische Gauleiter und Herausgeber des NS-Hetzblattes „Der Stürmer“, Julius Streicher, wusste diesen Umstand hingegen wiederum für sich auszunutzen und rief das „Zentral-Komitee zur Abwehr der jüdischen Greuel- und Boykotthetze“ ins Leben, in dessen Rahmen ein reichsweiter Boykott jüdischer Geschäfte orchestriert wurde: Am 1. April 1933 ab 10 Uhr begaben sich uniformierte Mitglieder der SA, der JH sowie des Stahlhelms zu jüdischen Warenhäusern, Arztpraxen und Anwaltskanzleien und hinderten die Menschen vehement daran, diese zu betreten. Schaufenster wurden eingeschlagen, Auslagen geplündert, antisemitische Schilder und Parolen hinterlassen und jüdische Inhaber und Angestellte körperlich angegriffen.
In der Bevölkerung hingegen herrschte keine große Anteilnahme an der Aktion. Tatsächlich wurde sie größtenteils schweigend hingenommen, vereinzelt kam es jedoch auch zu solidarischen Handlungen. Insbesondere unter den Katholiken stieß der Boykott vermehrt auf Unverständnis.
Relevanz des Materials
Auf den Fotos sind vier jüdische Geschäfte zu sehen, welche im Zuge der antisemitischen Boykotte mit Hakenkreuzen und unterschiedlichen Parolen beklebt worden sind. Sie stammen aus Paderborn und sind vermutlich noch vor dem reichsweiten Boykott vom 1. April entstanden, da auf einem Plakat ein Hinweis auf eine kommende Hitlerrede im März zu erkennen ist. Auf drei der Fotos sind einzig Passanten zu erkennen, lediglich auf einem hat sich eine augenscheinlich friedliche Menschentraube vor einem Geschäft gebildet. Uniformierte Boykottwachen sind indes nicht zu sehen.
Die Fotos lassen sich auf die Diskrepanz zwischen Teilnahmslosigkeit der Passanten und die Schärfe der hinterlassenen Parolen untersuchen. Diese Parolen selbst können zudem als Vergleich mit noch heute in ausländerfeindlichen Kreisen gängigen Aussprüchen und Bezeichnungen herangezogen werden, um Parallelen zur Gegenwart herzustellen. Anhand des auf den Plakaten allgegenwärtigen Bezugs auf die NSDAP und auf Adolf Hitler selbst lässt sich außerdem auf die selbstinszenatorische Funktion der durch die NSDAP organisierten Boykotte hinweisen. Sie waren zweifellos ein öffentlichkeitswirksamer Teil des Wahlkampfes.
Mario Polzin
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