Leserbriefe zur angeblichen Bevorzugung jüdischer Bewohner:innen
Textquelle
Lüdenscheid am 13./14.04.1920

Kurze Erläuterung

Antisemitische Parteien und Verbände gab es bereits im Deutschen Kaiserreich. Abgesehen vom kurzfristigen Erfolg einzelner Personen waren judenfeindliche Argumente vor 1914 jedoch eher in Teilen von Wissenschaft und Publizistik zu finden als in der Politik. In der Weimarer Republik kam es hingegen früh zur Gründung von antisemitischen Massenverbänden.
Der 1919 zunächst als Unterorganisation des „Alldeutschen Verbandes“ gegründete „Deutschvölkische Schutz- und Trutzbund“ brachte es auf fast 180.000 Mitglieder. 1922 wurde er aufgrund des ersten „Republikschutzgesetzes“ verboten, das nach der Ermordung des Außenministers Walter Rathenau durch ehemalige Freikorpssoldaten erlassen worden war. Die Organisation trat in der Öffentlichkeit vor allem durch Verschwörungserzählungen auf, die den Einfluss „des Judentums“ auf die Kriegsniederlage Deutschlands und die demokratischen Parteien der Weimarer Koalition beweisen sollten.
Die vorliegenden Leserbriefe erschienen einen Monat nach dem „Kapp-Lüttwitz-Putsch“: Im März 1920 hatten für einige Tage rechtsextreme Freikorps in Berlin die Macht übernommen. Diese denunzierten die Weimarer Regierung mit revanchistischen und teilweise antisemitischen Argumenten als „Verräter“ und „Verbrecher“.

Relevanz des Materials

Das Vorgehen des Vereins zeigt eine aus damaliger Sicht moderne Öffentlichkeitsarbeit des Verbandes: Eine Verordnung der Regierung wird aus dem Kontext gerissen und überspitzt dargestellt, eine populistische Gegenmaßnahme, in diesem Falle zusätzliche Lebensmittel für Christ:innen zu Ostern, gefordert und das entsprechende Schreiben über die (lokale) Presse veröffentlicht.
Die im Erwiderungsschreiben des Centralvereins deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens in Lüdenscheid erläuterte Verwaltungspraxis der Einbehaltung von Lebensmittelkarten wird im ersten Leserbrief genauso ausgeblendet wie die religiösen Hintergründe der Maßnahme, nämlich die jüdischen Speisegesetze über Pessach.
An diesem Leserbrief lassen sich Diskurse um modernen Antisemitismus erarbeiten. Letzterer zeichnet sich auch dadurch aus, dass nicht mehr reale Menschen Projektionsflächen bieten, sondern abstrakte Vorstellungen von „den Juden“ existieren, die als anders und fremd markiert werden. Die Autor:innen des ersten Leserbriefes differenzieren so zwischen einer christlich-deutschen Bevölkerung (derer sie einen Nachteil attestieren) und Jüdinnen und Juden. Ironischerweise argumentieren die Autor:innen in Bezug auf die Ausgabe von Lebensmitteln mit einer notwendigen „Gleichstellung aller Bevölkerungsgruppen“. Der „moderne“ Antisemitismus sah das Judentum somit als „Rasse“ und nicht als religiöse Gemeinschaft an.

Dr. Franz Jungbluth

Lernort 

Das Portal für Zeitungen zeit.punktNRW stellt historische Zeiten aus Nordrheinwestfalen digital und kostenlos zur Nutzung bereit. Dort finden sich viele lokale und regionale Zeitungen, die aus unterschiedlichen Archiven zur Verfügung gestellt werden.

zeit.punkt NRW