Visitationsbericht eines Schulinspektors aus einer Fabrikschule
Textquelle
Gernheim 1853

Kurze Erläuterung

In der Frühphase der Industrialisierung waren viele Familien darauf angewiesen, dass alle Familienmitglieder zum Unterhalt beitrugen. Vor allem in den Gewerben, die zunächst in Hausarbeit produzierten, wie dem Textil- und Zigarrengewerbe, arbeiteten die Kinder mit. Auch in den neuen Fabriken dieser Branchen und in der Glasindustrie im Mindener Raum wurden Kinder für viele Tätigkeiten eingesetzt. Die Arbeitsbelastungen und die gesundheitlichen Schäden für die Kinder waren offensichtlich. Zwar gab es bereits 1839 ein „Regulativ über die Beschäftigung jugendlicher Arbeiter in den Fabriken“, aber diese Bestimmungen reichten für den Schutz der Kinder nicht aus. Bis weit ins 19. Jahrhundert blieb Kinderarbeit an der Tagesordnung. In zeitgenössischen Publikationen wurden die pädagogischen und wirtschaftlichen Folgen kontrovers diskutiert. Auch in der 1822 gegründeten Fabrikschule der Glashütte Gernheim bei Petershagen war Kinderarbeit üblich. Der Visitationsbericht des Schulinspektors Ahlemann von 1853 ist Zeugnis dieser Zustände.

Relevanz des Materials

Aus dem Bericht des Schulinspektors Ahlemann geht auf den ersten Blick bereits die soziale Not der Arbeiterschaft hervor. Für sie ist es absolut notwendig, dass bereits die Kinder einer bezahlten Tätigkeit nachgehen, da deren Einkommen essentiell für die Existenzsicherung ihrer Familien sind. Das wiederum macht den regelmäßigen Schulbesuch und damit das Erlangen eines Bildungsniveaus, welches unter Umständen zu besser bezahlten Arbeitsverhältnissen und sozialem Aufstieg führen könnte, nahezu unmöglich. Zwar bestehen Fabrikschulen wie diese zu dem Zwecke, die Stundenpläne der Kinder mit deren Arbeitszeiten in der Fabrik abzustimmen, doch umgesetzt wird dies hier offensichtlich nicht. Dieser Umstände scheint sich auch die erwähnte Lehrkraft bewusst zu sein, welche nicht einmal mehr eine Abwesenheitsliste führt. Abwesenheit im Unterricht scheint der Normalzustand zu sein.
Die Arbeit selbst zieht die Kinder jedoch noch mehr in Mitleidenschaft, wie aus den Worten des Inspektors hervorgeht: In Folge der zwölf- bis vierzehnstündigen Arbeitsschichten erscheinen sie ihm „bleich, angegriffen, erschöpft, körperlich und geistig deprimirt [sic]“. Es handelt sich also nicht nur um kleinere Tätigkeiten, welche die Kinder im Werk zu verrichten haben, sondern um schwere Arbeit. Auf das Wohlergehen der Kinder wird keine Rücksicht genommen. Ihre Arbeitskraft wird ausgebeutet, ihre Körper und Gemüter leiden unter den Anstrengungen und möglicher sozialer Aufstieg wird massiv erschwert. Zwar schließt der Inspektor mit der Absicht, den Fabrikherrn zu Regulierungen bewegen zu wollen, doch strikte Vorschriften gab es zu diesem Zeitpunkt nicht.

Franziska Hackenes / Mario Polzin

Lernort 

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