Familienfotos im Wohnraum
Bildquelle
Gelsenkirchen/Recklinghausen um 1920

Kurze Erläuterung

Industrialisierung, Bevölkerungswachstum und Urbanisierung bewirkten akuten Wohnmangel in den Städten des Ruhrgebiets. Rings um die neuen Industrieanlagen entstanden Wohnsiedlungen für die Arbeiterfamilien. Für viele dieser Familien bedeutete dies gemeinschaftliches Wohnen auf engstem Raum. So sitzt die achtköpfige Familie im ersten Foto in ihrem Küchen- und Wohnraum (ohne Ortsangabe, wahrscheinlich Gelsenkirchen-Feldmark, undatiert, in den 1920er Jahren). Im Kontrast dazu die Familie des Recklinghausener Gymnasialdirektors Dr. Joseph Schäfer: seine Gattin Maria Schäfer mit Tochter Maria, Sohn Hans-Joachim (links) und Mehmed Zeki Alaeddin, ein bei Familie Schäfer wohnender  Gastschüler der Oberrealschule Recklinghausen aus Konstantinopel (heute das türkische Istanbul). Dr. Schäfer selbst ist auf dem Foto nicht zu sehen, als Hobbyfotograf mit eigener Kamera nahm er das Foto vermutlich selbst auf.

Relevanz des Materials

Die Gegenüberstellung der beiden Fotografien verdeutlicht eine schwerwiegende Folge des durch die Industrialisierung rasant gestiegenen Urbanisierungsgrades, nämlich das gravierende Gefälle zwischen armen und wohlhabenden Bevölkerungsschichten. Während ein Teil der Bevölkerung von der aufsteigenden Industrie profitierte und sich finanziell absichern konnte, mussten große Teile der Arbeiterschicht in mitunter prekären Situationen leben. In den Städten herrschten vielerorts Massenarmut und -arbeitslosigkeit und entsprechend klein und ärmlich gestalteten sich die Unterkünfte vieler Menschen. Daher erscheint dieser Blick in die Wohnräume besonders eindrucksvoll, da er beide Schichten in ihren privaten Lebensumständen zeigt. Die achtköpfige Arbeiterfamilie, deren Namen und genauer Wohnort nicht überliefert sind, versammelt sich in ihrer schmucklosen Wohnküche, an welche direkt die Schlafkammer angrenzt. Der Wohnraum wirkt ärmlich, beengt und baufällig. Die Familie des Gymnasialdirektors Schäfer hingegen inszeniert sich wohlhabend und stilvoll vor tapezierter Wand mit Gemälde. Auch wenn der Umfang der Wohnung nicht weiter ersichtlich ist, deutet die längere Anwesenheit des osmanischen Gastschülers im Haushalt doch darauf hin, dass an Platz kein Mangel bestand. Angemessener Wohnraum als gesicherter Lebensmittelpunkt blieb ein Privileg der wohlhabenderen Bevölkerung.

Franziska Hackenes / Mario Polzin

Lernort 

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