Kurze Erläuterung

Das Euthanasie-Programm und die T4-Aktionen erlangten nicht zuletzt durch das Engagement des sogenannten „Löwen von Münster“, Kardinal von Galen, grausige Bekanntheit. Dabei war nicht ausschließlich die Tötung „unwerten Lebens“ vorgesehen, sondern auch Sterilisationen sollten in großem Maße durchgeführt werden. Ein in Münster bekanntes Beispiel stellt Paul Wulf dar, der sich bis zu seinem Lebensende im Jahr 1999 für die Anerkennung seines und ähnlich gelagerter Fälle einsetzte und darüber aufklärte. Für sein Engagement erhielt er 1991 das Bundesverdienstkreuz.
Wulf wuchs ab 1932 in einem Kinderheim auf, wo er bereits Erfahrungen mit „rassenhygienischen Maßnahmen“ machte. 1938 wurde er mit der Begründung, an „angeborenem Schwachsinn ersten Grades“ zu leiden, zwangssterilisiert. Nach seiner Entlassung aus der Betreuung leistete er Widerstand gegen den Nationalsozialismus und engagierte sich in der Nachkriegszeit nicht nur für das Bekanntwerden seines Falles, sondern trug auch zur weiteren Aufklärung über NS-Verbrechen bei.

Relevanz des Materials

Das vorliegende Material zeigt eindrucksvoll den bürokratischen Aufwand, der bei der Umsetzung der nazistischen Rassenideologie betrieben wurde, um den Anschein von Rechtsmäßigkeit aufrecht zu erhalten. Ebenfalls wird deutlich, wie schwer es für verfolgte Menschen gewesen sein muss, der nationalsozialistischen Maschinerie zu entgehen. Die sprachliche Kälte des förmlich abgefassten Briefes lässt zunächst wenig Rückschlüsse auf die Bedeutsamkeit für das Individuum zu, dem damit nicht nur körperliche Gewalt angetan wird, sondern auch jedes Mitbestimmungsrecht auf eine Zukunft mit einer eigenen Familie genommen wird. So wird nicht nur ein regionaler Bezugspunkt erschlossen, sondern auch ein persönlicher Zugang. Paul Wulf wird mit gerade einmal 17 Jahren sterilisiert, also in einem Alter, in dem Sexualität und auch die Zukunftsplanung gerade an ihrem Anfang stehen. Somit bietet das Material großes Potenzial für einen Alltagsbezug.
Die Mappe, die von der Bezirksregierung Münster und der Villa ten Hompel herausgegeben wird, beinhaltet darüber hinaus weiteres Material zu diesem Thema, welches bereits für eine ganze Unterrichtssequenz aufbereitet worden ist. Dabei werden nicht nur Einblicke in die Grausamkeit des Systems offenbart, sondern auch der lange Weg Paul Wulfs zur Anerkennung seiner Verfolgung und erst später gefundenen angemessenen „Wiedergutmachung“. Dabei wird mithilfe des Material ebenfalls die Brisanz und Schwierigkeit deutlich, derart erlebtes Unrecht „wiedergutzumachen“. Das Material ist auf der Website der Villa ten Hompel erhältlich.

Oliver Kottmann

Lernort 

Die ehemalige Villa der Familie ten Hompel ist heute Münsters Geschichtsort für eine reflektierte und geschichtsbewusste Gesellschaft. Die Hausgeschichte – von einer Fabrikantenvilla zu Beginn des 20ten Jahrhunderts zur Kommandozentrale der Ordnungspolizei im Nationalsozialismus, nach 1945 Ort der Entnazifizierung und der „Wiedergutmachung“ – spiegelt Etappen deutscher und europäischer Zeitgeschichte. Am Geschichtsort diskutiert Münsters Stadtgesellschaft u.a. ihre historische Verantwortung als „Schreibtisch Westfalens“ – nachdenklich, selbstkritisch und offen für den Dialog. Einer interessierten Öffentlichkeit werden Erkenntnisse in der Dauerausstellung „Geschichte – Gewalt – Gewissen“ vorgestellt. Zugleich ist die Villa ten Hompel ein wissenschaftlich-ethisches Forum, das nationales und internationales Renommee gewonnen hat. Forschung und Vermittlung zu Holocaust, Diktaturerfahrungen und den gegenwärtigen Herausforderungen durch Rechtsextremismus und Antisemitismus bilden den Kern des menschenrechtsorientierten Engagements.

Villa ten Hompel