Jobst von Strünkede – Sage und Rezeption als historische Quelle

Im Herner Stadtteil Baukau erinnert noch heute das Schloss Strünkede an das dort ansässige Adelsgeschlecht von Strünkede, das bereits im Laufe des 19. Jahrhunderts erloschen ist. Dennoch blieb die Familie auch über ihr eigentliches Ende hinaus der Stadt Herne im kollektiven Gedächtnis erhalten: Etwa in Form einer Sage über Jobst von Strünkede (1500-1529), der sich ihr zufolge als skrupelloser Raubritter betätigt haben soll:

In der Sage tyrannisiert der „tolle Jobst“ ein ums andere Mal die Bewohner der benachbarten Stadt Recklinghausen, indem er sie auf den Landstraßen überfällt, ganze Felder verwüstet und sich mit Gewalt alles nimmt, was er nur wollte. Das habe die Recklinghausener letztendlich dazu gebracht, sich selbst zu rüsten und gemeinsam gegen Jobst und seine Männer in die Schlacht zu ziehen. Zwar sei der erste Angriff gescheitert, doch auf der Flucht habe man neuen Mut geschöpft und ein namenloser Bürger soll den Herner Raubritter letztendlich mit einer Axt erschlagen haben. Erst das gewaltsame Ende Jobsts soll dann endlich für Frieden gesorgt haben.

Sagen und Legenden, auch wenn sie auf historisch greifbaren Personen beruhen, können nun aber in den seltensten Fällen als belastbare Zeugnisse der Geschichte betrachtet werden. Nicht umsonst werden Lügengeschichten gern sprichwörtlich ins „Reich der Sagen und Legenden“ verbannt. Und tatsächlich ist auch diese Geschichte um den Raubritter nicht haltbar: Zwar hat sich die Familie von Strünkede zu Beginn des 16. Jahrhunderts tatsächlich wiederholt im Konflikt mit der Stadt Recklinghausen befunden, doch Jobst selbst war an diesen Auseinandersetzungen nicht beteiligt. Ganz im Gegenteil schien ihm sogar die Rolle eines Friedenswächters zuteil geworden zu sein, denn sein Vater Reynar, der als Verantwortlicher für diese Ausschreitungen vom Herzog verurteilt worden war, gelangte ausgerechnet auf Burg Strünkede, und damit bei Jobst, in Haft. Der Umstand, dass Jobst bereits mit 29 Jahren verstorben war, scheint letztlich zum Anlass genommen worden zu sein, die Machenschaften seiner Vorfahren in seiner Person zu vereinen.

Trotzdem können derartige Erzählungen, die historische Ereignisse falsch wiedergeben, für den Unterricht spannende und lehrreiche Quellen zur Mentalität einer Zeit darstellen. Dazu muss der Fokus von reiner Faktenvermittlung auf die analytische Ebene verlegt, die Geschichte auf ihre Aussage oder Moral untersucht und anschließend im Kontext ihrer Entstehungszeit reflektiert werden.

Im Falle der Sage um den „tollen Jobst“ liegt die Deutung auf der Hand: Der Raubritter Jobst verkörpert stellvertretend den moralischen Verfall und den Bedeutungsverlust des niederen Adels, während mit der Einwohnerschaft Recklinghausens das Bürgertum den Repressionen trotzt, letztlich die Oberhand gewinnt und sich von der Tyrannei mit eigener Stärke befreit. Betrachtet man die Geschichte nun im Spiegel ihrer Zeit, nämlich des ausgehenden Mittelalters, welches von eben jenem Niedergang des Rittertums und dem Aufstieg der Städte und dem Bürgertum geprägt war, wird die Sage unmissverständlich zum Ausdruck des bürgerlichen Zeitgeistes, der sich von adliger Herrschaft zu emanzipieren suchte und die eigene Stärke in den Vordergrund rückte.

Weiteres Potenzial bietet die Sage durch ihre spätere Rezeption in der Weimarer Republik. Schon vor der eigentlichen Weltwirtschaftskrise war die wirtschaftliche Situation in der jungen Republik durch den gerade erst überwundenen Krieg sowie die aus ihm resultierenden Reparationszahlungen stark angespannt, sodass die Städte sogenanntes „Notgeld“ druckten, um ihre Finanzlage zu stabilisieren. Im Jahre 1921 entschied sich die Stadt Herne dazu, die Sage von Jobst von Strünkede zu illustrieren und auf ihren Scheinen verbreiten zu lassen. Warum die Wahl ausgerechnet auf diese Sage gefallen ist, bietet wiederum Anlass zur Analyse der Umstände:

Mit der Novemberrevolution 1918 wurde durch die Handlungen der Soldaten und Arbeiter das Ende der Monarchie erzwungen und der Übergang zur Demokratie, und damit zur bürgerlichen Herrschaft, eingeleitet. Es befreite sich also auch hier das Bürgertum von der Tyrannei Monarchie, der Adelsherrschaft, die für den Krieg und damit für die herrschende wirtschaftliche wie soziale Notlage verantwortlich gemacht werden konnte. Damit liegt der Schluss nahe, dass sich die Verantwortlichen der Stadt Herne bei der Wahl der Sage vom „tollen Jobst“ bewusst dafür entschieden haben, das Selbstverständnis des aufsteigenden spätmittelalterlichen Bürgertums zu reproduzieren. So wie sich die Städte vom Landadel emanzipieren konnten, so könne sich nun die „einfache“ Bevölkerung von den monarchischen Strukturen lösen und im demokratischen System über sich selbst herrschen.

Anhand von Sagen und ihrer späteren Rezeption können also geschichts- und erinnerungskulturelle Aspekte erarbeitet und analysiert werden, die weit über den faktischen Wert der erzählten Geschichte hinausgehen. Das kann sie zu spannenden und aufschlussreichen Quellen für den Unterricht machen.

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