Fotografien im Fokus: Mobilmachung in Gütersloh 1914

Fotografien sind spannende historische Quellen. An ihnen lässt sich viel erarbeiten, gleichzeitig ist bei der Arbeit mit Fotografien, historisch oder gegenwärtig immer zu hinterfragen, zu welchem Zweck, mit welcher Intention und von wem sie eigentlich angefertigt worden sind. Methodisch sind sie also durchaus anspruchsvoll in ihrer Erschließung.
In Anlehnung an Christoph Hamann und Andreas Weinhold bietet sich ein fünfschrittiges Verfahren an, um sich Fotografien als historischen Quellen zu nähern:

  1. Bildwahrnehmung: Was erkenne ich (wieder)? Worüber möchte ich noch mehr erfahren?
  2. Bildentstehung erschließen: Welche Informationen zu der Fotografie kann ich erhalten? Welche Hintergründe sind bekannt (Aufnahmedatum, -ort, Fotograf, Adressaten)?
  3. Bildinhalt beschreiben: Was ist abgebildet, was fehlt? Wie sind Objekte angeordnet? Was sehen die Fotografierten?
  4. Bildgestaltung erschließen: welche Kameraperspektive? Wie ist der Bildaufbau? Sind Bearbeitungen erkennbar? Welche Wirkungsabsicht hat(te) die Fotografie?
  5. Bild beurteilen: Was können wir über die Vergangenheit lernen aus der Fotografie? Wie ist die Rezeptionsgeschichte?

Diese Schritte führen wir für die Fotografie „Gute Fahrt“ einmal groben Schritten durch.

  1. Bildwahrnehmung: zu sehen sind alte Züge, anscheinend ohne Abteile, die Bildunterschrift wünsche „Gute Fahrt“, wo geht es hin?
  2. Bildentstehung erschließen: die Fotografie stammt aus dem August 1914, sie ist im Bildarchiv des LWL-Medienzentrums online einsehbar. Der Fotograf ist Hermann Goldbecker, der ein eigenes Fotoatelier in Gütersloh hatte und den Krieg in und um Gütersloh festgehalten hat. Allen Fotografien im Bildarchiv sind nachträglich Bildunterschriften zugefügt, teilweise sind Fotografien als Postkarten genutzt worden.
  3. Bildinhalt beschreiben: man sieht einen Zug in Bewegung (leichte Unschärfe des Bildes), Menschen von hinten vor einem geschlossenen Bahnübergang, Männer, Frauen und Kinder teilweise mit Fahrrädern, einige winken mit Taschentüchern, der Waggon, der groß zu sehen ist, trägt Graffiti und Zeichnungen (Mann auf einer Schüssel), Totenkopfzeichen, Galgen etc., Männer aus dem Zug winken den Menschen vor dem Zug
  4. Bildgestaltung erschließen: Der Fotograf fotografiert aus halbhoher Position aus dem Rücken der Menschen vor dem Bahnübergang auf den Zug. Im Zentrum des Bildes befindet sich der Zug, sichtbar ist ein Güterwaggon, in dem Männer sitzen und stehen. Das Zentrum der Fotografie ist zeitgleich der hellste Punkt und lenkt so das Hauptaugenmerk auf den Waggon mit den Männern und Aufschriften. Bearbeitungen sind v.a. durch das Ergänzen der Bildunterschrift erkennbar
  5. Bild beurteilen: Die Fotografie ließe sich nahtlos dem Mythos der gesellschaftsübergreifenden Kriegseuphorie zuordnen. Dies zeigen sowohl die ausgelassen wirkenden Gesichter der Menschen als auch die nachträglich angebrachte Bildunterschrift. Die Fotografie zeigt auch, dass die Mobilmachung ein öffentliches Ereignis war, das von den Menschen in der Heimat wahrgenommen wurde. In ihrer Art lässt sich die Fotografie bekannten und für den Kriegsausbruch typischen Fotografie zuordnen.

In diesem Beispiel bietet sich durchaus ein arbeitsteiliges Vorgehen an. So können in Kleingruppen mehrere Fotografien des Fotografen Hermann Goldbecker erarbeitet und am Ende im Plenum miteinander verglichen werden. Es handelt sich dabei um Fotografien einer Serie, die alle von dem gleichen Zug stammen, der Soldaten und Ausrüstung im August 1914 an die französische Front gefahren hat. Zusätzlich zu der Fotografie „Gute Fahrt“ könnten aus der Sammlung Niemöller aus dem Bild-, Film- und Tonarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen noch zwei weitere Fotografien hinzugezogen werden. Die unterschiedlichen Fotografien zeigen dabei in der Zusammenstellung unterschiedliche Aspekte des Krieges. So kann bei dem Güterwaggon (03_3936) mit Soldaten und Graffiti erarbeitet werden, dass die scheinbar ausgelassene Stimmung der Männer und die Sprüche nicht vermuten lassen, dass die Fahrt in einen Jahre andauernden Weltkrieg führen wird. Der Waggon mit dem Rote-Kreuz-Wagen (03_3938) lässt dagegen jedoch Rückschlüsse auf eine Facette des Krieges zu, die in Folge des Krieges zahlreiche Menschen und Familien belasten wird, nämlich die hohe Anzahl an Schwerverletzten und Toten, die der Erste Weltkrieg als industrieller Krieg mit neuen Waffen und damit auch neuen massenhaften Verletzungen mit sich bringen wird.

Der Vergleich der Materialien miteinander eröffnet hier unterschiedliche Perspektiven auf den Ersten Weltkrieg. Durch eine intensive methodische Arbeit kann mithilfe der Fotografien die Wahrnehmung des Kriegsausbruchs in Gütersloh analysiert werden. Eine genauere Analyse der Bildunterschriften gibt hier auch Einblicke in die Sicht des Fotografen auf die Ereignisse. Erarbeitet werden könnte diese Sicht durch das Retuschieren der Legende. Schüler:innen könnten beispielsweise aufgefordert werden, eigene Bildunterschriften zu formulieren, die anschließend mit der originalen Unterschrift verglichen werden.

Zu den Materialien

Die Fotografie „Gute Fahrt“ ist als Lernressource bei EDU_Westfalen hinterlegt. Die anderen beiden Fotografien sind durch das Bildarchiv des LWL-Medienzentrums für Westfalen abrufbar und dort auch für die schulische Nutzung herunterladbar. Sie sind entsprechend unten verlinkt. Möglich ist auch eine andere Auswahl an Fotografie. Die Sammlung Niemöller bietet zahlreiche Fotografien des Fotografen Hermann Goldbecker von dem Zug in Gütersloh. Die Quellenauswahl kann also auch noch individuell angepasst werden.